Geoffroy Gross

Jacques Victor Giraud, « Der Gesang des Striches im Graduell »…

Laura Sonderausgabe, « Die Verfertigung der Linie – La construction du trait », 2014

 

Jacques Victor Giraud

 

Der Gesang des Striches im Graduell

 

Die Buchstaben folgen aufeinander, manchmal halten sie schwebend inne. Diese Abfolge/Ahhäufung erschafft die Linien im Raum der Seite. Das Wort wartet lange, bevor es anfängt zu wirken. Mit einem Namen schickt er seinen Saft, um die Linie zu vervollkommen, um die Seite zu schwärzen, bis in die Vergessenheit des Warum, des Wie. Daraus entsteht eine Spur.

 

Nichts ist sauber heutzutage. Dies verallgemeint sich und erschafft dabei einen nicht enden wollenden Prozess der Trennung, die dem Gesamten Gleichgültigkeit verleiht. Diese reine Form der Trennung, die gar nicht mehr trennt. Es bleibt der Nutz- und Tauschwert, ganz einfach: der Konsumm. Er ist immer vergangen oder zukünftig. Die Museen werden zu Supermärkten. Die Medieneinrichtungen mengen die Spaltung der Leere bei und stellen sie zur Schau. Das ist das Schauspiel, in dem wir uns befinden.

 

Der erste Platz rutscht zu dem zweiten, zu dem dritten… die Bewegung wiederholt sich unendlich. Diese Ordnung spielt sich nach einer der chronologischen Zeit perfekt entsprechenden Abfolge ab.

 

Aber wenn sie skandiert wird, von einem Wortspiel beseelt, so dass jede von ihnen einen anderen wieder ergreift und zurückruft. Oder sie selbst wird anders. Vergangenheit und Gegenwart sind am Werk.

Dann führt die beabsichtigte Entnahme, in eine unruhige, exaltierte, aufgeregte, rasende Geste, die Geburt herbei.

Suche nach dieser gegenwärtige Zeit, nach diesem Jetzt, nach dem, was lebt und hörbar ist. Die Ankündigung ist deren Form. Sie kritisiert die Gesetze, die errichtet werden. Interne Gegenüberstellung zwischen einem normativen Element (kleines Bild) und einem Element, das die Linie verspricht, ankündigt. Untätige Hände, wirkungslose Handlung. Spur, die Stillstand bedeutet. Keine Frage des Zerstörens oder des Löschens, sondern des Ausführens, des Aktivierens. Der Fakt (Bild) ist nicht mehr eine Handlung sondern schwebend. Das Bild lässt die Kräfte verschmelzen, nach dem es gewählt hat, das autoritäre Gitter zu deaktivieren. Was von der Zeichnung behalten wird, was der Energie entschlüpft ist, wird festgehalten und festgemacht. Die konkrete Individualität in eine abstrakte Identität eingefügt – zwei Modalitäten des Subjekts deren Zeiten sich nicht vermischen können. Diese Regel, diese Methode, inszeniert etwas, das sich an keine seiner Dimensionen reduzieren lässt. Sie findet die Wahrheit in der Spannung, die sie zwischen ihnen erzeugt.

 

 

 

 

 

 

 

 

Ein Bild: die Tinte fließt und bildet einenViereck – in der Schwärze schlummert eine Süße – Spiegel modriges Wassers – ein anmutiger Strich kommt lebhaft zum Vorschein.

 

Ein anderes: drei Vierecke greifen übereinander, die Tinte bestimmt die Ordnung der verschobenen Überlagerung, feiner, leichter Saft, mit verwickelten Schleifen bedeckt. Sie sprechen das Horchen, das Lebensatem aus.

 

Ein aufgekritzeltes Wort, das verschwindet.

 

Die kraft einer Kurve wird feiner oder verschärft sich durch das Zerdrücken der Zeichenkohle, die in der Wiederaufnahme des Striches, das Schwarze dieses Bäumchens verstärkt, dieses Zierbaums, der in seiner regen Wachstum kein Blatt zurückhält.

 

Eine Wandzeichnung: in eine intensive Diffusion des Lichts lässt eine Linie einen Gitter erkennen oder erahnen. Der Umriss einer Scheibe versucht zu entkommen, die Ausstrahlung geht hervor, der Flaum verbrennt, das Gemälde ist im Werden.

 

Gesehen in Geoffroy Gross Atelier:

 

Ein Bild hängt an der Wand, ein kleines Bild fehlt. Dieses ist auf einen ausgesuchten Stuhl gestellt worden, vor der Wand, neben (die Leere) das Bild. Dieses Bersten erschafft die Geburt der realen authentischen Zeit. Was gewesen ist, vereinigt sich in einem Augenblick.

 

Ein anderes Bild hängt an der Wand. Daneben, auf eben dieser Wand, hängt ein Heizkörper. Seine Kanten nehmen die Strichstruktur des Bildes wieder auf. Die Anordnung vergrößert die Ausstrahlungsfläche des Heizkörpers, wird somit zur lesestoff und betont dieses Wissen, diesen kritischen und gefährlichen Augenblick.

 

Historische Zeit: Geoffroy Gross stellt in Dessau aus. Das Bauhaus, 1919 in Weimar gegründet, wird von dort durch das Gelangen der Rechtsextremen an die Macht vertrieben. 1924 findet die Schule in Dessau Unterchlupf. Unter dem Aufstieg des Nazismus schließt sie im Jahr 1932.

 

Ziel mit langen Strichen: mein Gekritzel.

 

 

Jacques Victor Giraud